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Religiöser Revierkampf im Nahen Osten






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Es war nicht nur der Angriff der türkischen Regierung auf die Bäume im Istanbuler Gezi-Park, der Anfang Juni die Demonstranten so wütend gemacht hatte. Es war auch der Plan von Premierminister Recep Tayyip Erdogan, eine Moschee für 1500 Menschen auf dem Taksim-Platz zu errichten. In Ägypten wiederum hatten die Protestierenden monatelang die Entfernung des Großimams von der Al-Azhar-Universität gefordert – um ihn später als „christlichen Agenten“ zu bezeichnen, nachdem er die Absetzung Mursis unterstützte.

Anders als bei den westlichen Debatten über den Bau von Moscheen in der Nähe von Ground Zero oder in Köln, stellen diejenigen, die in der Türkei und in Ägypten gegen islamische Institutionen auf die Straße gehen, keineswegs das Recht von Muslimen infrage, Gotteshäuser zu bauen oder ihre Religion auszuüben.

Einer eigentümlichen Koalition aus steuerzahlenden türkischen Säkularisten und ägyptischen Islamisten geht es vielmehr um die Trennung von Religion und Staat.

Die Taksim-Moschee ist nur eine von 600, die die türkische Regierung in diesem Jahr bauen wird, darunter eine in Istanbul, die die Ausmaße eines Stadions haben und mit den größten Minaretten der Welt prahlen wird. Erdogan betont, er brauche für den Bau weder die Erlaubnis der Demonstranten noch der Opposition – rein technisch betrachtet hat er recht.

Allerdings geht es hier um eine viel tiefere Debatte, die Erdogan und Mursi einst selbst begrüßt hatten, als sie noch in der Opposition waren. Es könnte der Beginn einer größeren Diskussion sein, die die Bürger in der Türkei und in Nordafrika vermieden haben, seit islamistische Parteien die Macht übernommen haben: Was wird aus dem „offiziellen Islam“ in der neuen politischen Ordnung?

Die heute in der Türkei, in Tunesien und (bis vor kurzem) in Ägypten regierenden Parteien haben den staatlichen Islam schließlich nicht erfunden. Sie haben ihn von ihren militärischen Vorgängern geerbt. In den vergangenen 60 Jahren wurde die staatliche Religionsaufsicht genutzt, um die nationale Identität zu festigen und dem Einfluss jener Bruderschaften und Missionare zu begegnen, die als staatsgefährdend wahrgenommen wurden. Oft sind es die ideologischen Vorgänger der heutigen islamistischen Regierungsparteien.

Etwa ein Viertel der 83 000 Moscheen in der Türkei wurde so zum Beispiel in den 80er Jahren gebaut. Erdogans AKP ist nur für die letzten 7000 verantwortlich. In Ägypten waren in den 70er Jahren nur 15 Prozent der Moscheen staatlich kontrolliert. Während Mubarak regierte, stieg dieser Wert auf 100 Prozent, zumindest offiziell

Der so geschaffene „Islamstaat“ versucht, alle formalen Aspekte der Religiosität der Bürger zu ordnen. Eine ganze Kaste öffentlicher Angestellter ist für Moscheen, Predigten, die Religionserziehung, die theologischen Fakultäten und die Auslegung des Glaubens durch die Scheiche zuständig. Als die Militärregime verschwanden, hätte man vermuten können, dass dieser repressive und teure Apparat bald in sich zusammenfallen würde. Doch das Gegenteil war der Fall.

In der Türkei vervierfachte die Behörde für religiöse Angelegenheiten ihre Ausgaben auf 2,3 Milliarden Dollar. Ihre 121 000 Angestellten machen inzwischen sechs Prozent aller Staatsbediensteten aus. In Nordafrika haben im vergangenen Jahrzehnt sowohl islamistische als auch nicht islamistische Regierungen den muslimischen Staat gestärkt – vor und nach dem Arabischen Frühling. Warum heißen die Islamisten plötzlich von ganzem Herzen einen Apparat willkommen, den sie noch vor wenigen Jahren so schrecklich fanden?

Das Regieren hat ihnen eine neue Perspektive gegeben: Sie haben nun ihre eigene Revolution zu verteidigen. In Ägypten, Tunesien und Libyen posieren die islamistischen Parteien nun als Gewährsleute gegen den radikalen Salafismus. Mursi erwies den Vorreitern des inner-sunnitischen Kampfes regelmäßig seine Ehre – unter ihnen befinden sich auch Überbleibsel des alten Regimes. Seine Sorgen um die rechte Flanke waren durchaus berechtigt, wie sich zeigte: Seine Erzfeinde, die Salafisten der Nour-Partei, saßen in Kairo nun zusammen mit der neuen militärischen Führung auf dem Podest.

Die Verbindung islamistischer Gruppen mit der Staatsreligion passt auch zu Teilungsstrategien der Mächtigen, wie zum Beispiel in Marokko, wo Religionsangelegenheiten noch immer zu den „souveränen Ministerien“ des Königs gehören. 52 000 Angestellte hat dieses Ressort mit dem am schnellsten wachsenden Budget in der ganzen Regierung. Im Nachbarland Algerien hat die Angst vor dem Vordringen der Salafisten dazu geführt, dass das Ministerium für Religionsangelegenheiten tausende neue Mitarbeiter eingestellt hat und versucht, politische Parteien von den Moscheen fernzuhalten.

Einige dieser religiösen Revierkämpfe sind wichtig für die nationale Sicherheit. Salafisten und Extremisten, die mit Al Qaida in Verbindung stehen, haben in allen diesen Ländern im vergangenen Jahr Anschläge verübt. Aber das eifersüchtige Religionsmonopol der post-revolutionären Staaten zwingt auch nicht gewalttätige religiöse Bewegungen in eine Existenz außerhalb von staatlicher Anerkennung.

Die Folge ist, dass einige Bruderschaften ihren Einfluss heute auf Felder weit jenseits des Rechtsstaates verlegen. Weil sie nicht als religiöse Organisationen oder politische Parteien zugelassen werden, sind sie den demokratischen Institutionen gegenüber auch nicht zur Rechenschaft verpflichtet.

Falls der „Islamische Staat“ weiter wächst, ohne seine Struktur zu reformieren und seine Statuten inklusiver zu gestalten, wird er sich von solchen wichtigen sozialen und politischen Realitäten abkoppeln. Jenen, die bereits Jahrzehnte im Untergrund verbracht haben, wird das bekannt vorkommen. Sie wissen, dass es nicht nachhaltig und auch nicht gerecht ist, das Staatsmonopol der Mehrheitsreligion aufzublähen und gleichzeitig friedliche Minderheiten kaum zu tolerieren.

Wenn den neuen Machthabern keine bessere Synthese der staatlich unterstützten Religionen gelingt, werden die aufkeimenden sozialen Veränderungen früher oder später über sie hinweggehen. Andererseits sollten die liberalen und säkularen Kräfte auf der Hut sein und eher eine Reform des „Islamischen Staates“ fordern, nicht seine Abschaffung. Ihn zu beseitigen, ohne einen Plan für den Übergang zu haben, würde in einem jahrhundertelang regulierten Feld anarchische Kräfte entfesseln.

Es hat einige Augenblicke der Reform gegeben: Die Türkei und Marokko haben sich für Frauen, für sprachliche und religiöse Minderheiten geöffnet. Allerdings ist bislang bei weitem nicht genug geschehen. Ein ausgleichender religiöser Pluralismus ist nicht in Sicht. Die türkische Regierung – und die nordafrikanischen Länder, die ihrem Beispiel folgen – können ihren Gegnern nicht Islamophobie vorwerfen, wenn es ihre Glaubensbrüder sind, die zu den Demonstrationen strömen.